Kriegskindheiten: Generationalität und Generativität

Kriegskindheiten: Generationalität und Generativität

Organisatoren
Hartmut Radebold, Kassel; Insa Fooken, Universität Siegen; Barbara Stambolis, Universität Paderborn / TU Darmstadt
Ort
Hofgeismar
Land
Deutschland
Vom - Bis
08.10.2008 - 10.10.2008
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Von
Barbara Stambolis, Universität Paderborn / TU Darmstadt

Mit der Tagung „Kriegskindheiten: Generationalität und Generativität“ setzte die Forschungsgruppe „Weltkrieg2Kindheiten“ ihre Beschäftigung mit lebenslangen bzw. auch an nachfolgende Generationen weitergegebene, – oft traumatische – Erfahrungen der zwischen 1929/30 und 1945/46 geborenen Alterskohorten fort.1

Der Workshopcharakter der Veranstaltung war ausdrücklich gewünscht und machte sich darin bemerkbar, dass einzelne Projekte in ihrem Fortgang mit Blick auf Geleistetes und offene Fragen diskutiert wurden. Vorgestellt wurden auch Forschungsvorhaben, die sich noch in der Anfangsphase befinden.

Den Auftakt bildete die ausführliche Diskussion zweier Interviewprojekte unter methodischen Aspekten. Eine umfangreiche Studie zum Hamburger Feuersturm, die auf Befragungen von Zeitzeugen, Kindern und Enkeln basiert, befindet sich in der Auswertungsphase. Es geht hier im weitesten Sinne um „Verarbeitungsweisen“ der traumatischen Erfahrung „Feuersturm“. Von ULRICH LAMPARTER, CHRISTA HOLSTEIN, MALTE THIESSEN, BIRGIT MÖLLER und SILKE WIEGAND-GREFE (Hamburg) wurden unter methodischen Fragen Chancen und Grenzen narrativer Einzelinterviews zur Diskussion gestellt, die durch psychoanalytisch-historische Familiengespräche ergänzt werden. Die Beteiligten schilderten ihre Entwicklung einer Typologie von Verarbeitungsmustern auf der Grundlage der Transkription der Interviews und der nacherzählend gedeuteten Verarbeitungsgeschichte. Sie beschrieben ihre Überlegungen zur Herausfilterung „paradigmatischer Fälle“. In der Diskussion wurde nicht zuletzt auf die Möglichkeiten einer computergestützen Auswertung solcher Interviews hingewiesen, die offenbar besonders geeignet ist, Widersprüche oder Erzählbrüche der Befragten deutlich werden zu lassen.

BARBARA STAMBOLIS (Paderborn) und INSA FOOKEN (Siegen) stellten ein Befragungs-Projekt „vaterlose Töchter“ vor, das sich aus einem viel diskutierten zu „Söhnen ohne Väter“ zu entwickeln beginnt.2 Die Fragen an die Frauen sind bereits anders formuliert als dies in dem Männerprojekt der Fall war. Bei der Auswertung und den noch zu führenden Interviews müssen vor allem geschlechtsspezifische Erziehungsnormen und Bedingungen des unterschiedlichen Aufwachsens von Mädchen und Jungen in der deutschen Nachkriegsgesellschaft berücksichtigt werden. Hervorzuheben ist, dass bereits die Mütter dieser vaterlosen Töchter häufig ebenfalls vaterlos oder vaterfern aufgewachsen waren, also mehrere Frauengenerationen kaum männliche ‚Vorbilder‘ kannten.

Dieser Block mit methodischen Schwerpunkten bot eine Möglichkeit, intensiver als dies in der Regel bei Tagungen der Fall ist, Details zu erörtern und Forscher/innen unterschiedlicher Disziplinen miteinander ins Gespräch zu bringen. Damit wurde der seit Jahren ausgeprägten und von den meisten Beteiligten in diesem Forschungsverbund als erfolgreich beschriebenen Zusammenarbeit von Germanisten, Psychologen, Gerontologen und Historikern (um nur einige der beteiligten Disziplinen zu nennen) Rechnung getragen.

Am 9. und 10. Oktober stand die Auswertung von Studien mit Blick auf „Kriegsfolgen der langen Dauer“ und ihre Wirkungen in unterschiedlichen zeithistorischen Deutungs- und Bedeutungszusammenhängen im Focus: Gesundheit und Krankheit, mentale Belastungen, erinnerungskulturelle und geschlechterspezifische Fragen kamen zur Sprache.

ELMAR BRÄHLER (Leipzig) berichtete über eine Befragung, die deutlich macht, dass Vertreibung, Ausbombung und erlebte Kriegshandlungen als Prädikatoren für somatische Beschwerden im Alter eine große Rolle spielen. Lebenszufriedenheit im Alter – in der Altersgruppe der Kriegskinder – ist allerdings, so der Referent und einige Kommentatoren, von zahlreichen weiteren Faktoren mit beeinflusst. Eine wichtige Frage wäre, ob und wenn ja wie Kriegserfahrungen Einfluss auf Ausprägungen von Demenz haben. Es wurde darauf hingewiesen, dass schon bald nicht mehr die Kriegerwitwen eine Mehrheit in Altenheimen darstellen: Es wird eine zunehmend auch männliche Klientel in Alteneinrichtungen geben.

ULRICH LAMPARTER, CHRISTA HOLSTEIN, MALTE THIESSEN, BIRGIT MÖLLER und SILKE WIEGAND-GREFE (Hamburg) stellten Ergebnisse aus dem Feuersturm-Projekt vor. Die Gruppe unterscheidet 13 „Typen“ langfristiger individueller Verarbeitung, die auch für andere Zeitzeugenprojekte von Bedeutung sein können. Thiessen betonte unter anderem die narrative Selbstverortung von Zeugen des Feuersturms in generationellen Kontexten und problematisierte „Generationalität“ und „Generativität“ als heuristisch sinnvolle Deutungskategorien. Die generationelle Zugehörigkeit werde nicht nur über ein Ereignis begründet, sondern über vielfältige allgemeinere Erfahrungen, etwa der des dauernden Mangels („Generation Lebensmittelkarte“). Diese haben eine erhebliche Bedeutung und Nachhaltigkeit, sind also prägend für das weitere Leben und wirken sich auch transgenerational aus.

Den Blick auf die bundesrepublikanische Geschichte der 1950er- und 1960er-Jahre erweiterten mehrere Referate. SABINE BERTHOLD (Frankfurt) wandte sich am Beispiel von Filmen wie „Die Halbstarken“ Generationenkonflikten in der Nachkriegsgesellschaft zuwandte und unternahm es, Gewaltpotentiale zu deuten. RUDOLF J. SCHLAFFER (Potsdam) stellte das Projekt: „militärische Aufbaugenerationen der Bundeswehr“ (1955 bis 1970) vor. Kompliziert und wichtig zugleich sind hier vor allem generationelle Differenzierungen. BERTRAM VON DER STEIN (Köln) befasste sich aus psychologischer Perspektive mit dem Wiederaufbau der deutschen Städte nach dem Zweiten Weltkrieg. Es wurden, so von der Stein, „Wunden“ verdeckt.

Einer einzelnen Berufsgruppe und hier wiederum einem Jahrgang: 1943 geborenen westdeutschen Historikern, widmeten JÜRGEN REULECKE (Giessen) und BARBARA STAMBOLIS ihre Aufmerksamkeit.3 Reulecke ging unter anderm der Frage der „Gebürtlichkeit“ des „Jahrgangs 43 männlich“ nach. Stambolis stellte den aktuellen Stand der Auswertung des Befragungsprojekts vor. Sie betonte die große Zahl von Aufsteigern, von Vaterlosen und von Zeithistorikern in der untersuchten Gruppe. INSA FOOKEN und HARTMUT RADEBOLD kommentierten ihre Wahrnehmungen des Projekts: Gibt es berufsgruppenspezifische Abwehrstrukturen und/oder Verarbeitungsmechanismen der Kriegs- und Nachkriegserfahrungen? Was ergäbe der Vergleich mit einer Gruppe von Architekturprofessoren desselben Jahrgangs?

IMBKE BEHNKEN und JANA MIKOTA (Siegen) berichteten vergleichend über ganz unterschiedliche Erfahrungen mit einer Essener und einer Siegener „Erinnerungswerkstatt“, einer gelungenen und einer eher konfliktreicheren Kommunikation zwischen Zeitzeugen im Austausch über ihre Kriegserfahrungen. Der intergenerationelle Dialog spiele eine wichtige Rolle: Oft würden Fragen an die Angehörigen der Erlebensgenerationen leider zu spät gestellt, dann, wenn sie verstorben seien.

INSA FOOKEN berichtete von einer Studie zu späten Scheidungen in Altersgruppen der um 1930, 1940 und 1950 Geborenen. Unter Berücksichtigung der Kriterien ,Vaterlosigkeit’ und Mutterbindung zeigen sich interessante Besonderheiten und Unterschiede. Die Referentin plädierte dafür, Stichproben und Jahrgänge innerhalb der psychologischen Forschung immer auch in ihrem historischen Kontext zu erfassen.

KLAUS LIEBERZ (Mannheim) gab einen Überblick über die „Mannheimer Kohortenstudie“ am Zentralinstitut für Seelische Gesundheit in Mannheim. Genauer ging er auf eine aktuelle Studie ein, die aus der Gesamtstichprobe eine Untergruppe von fünfzig Probanden untersucht, die den Jahrgängen 1935 und 1945 angehören. Seine Fragen sind unter anderem: Haben Kriegserfahrungen einen nachweisbaren Einfluss auf die spätere Gesundheit? Hat das gemeinsame Auftreten von frühen und späten Traumatisierungen einen Zusammenhang mit dem Gesundheitszustand?

HELGA SPRANGER (Kiel) stellte ein Videointerview aus dem Zeitzeugenprojekt des Fördervereins „Kriegskinder für den Frieden“ e.V. vor und gab damit einen Einblick in ein im Aufbau befindliches Zeitzeugenarchiv.

HARALD KAMM und CHRISTA MÜLLER (München) berichteten von Münchener Interviewprojekten. Kamm gab einen Einblick in ein Befragungsprojekt von 67 Analytikern der Jahrgänge 1938 bis 1945. Ein Befund: die Themen Nationalsozialismus und Kriegserfahrung wurden oftmals in den Lehranalysen nicht besprochen. Anders als Historiker weisen Psychologen immer wieder darauf hin, dass solche Interviews auch für die Befrager hochgradig belastend sind.

Das nächste Treffen der Forschungsgruppe 4 ist bereits für den 28. bis 30. Oktober 2009 in der Evangelischen Akademie Hofgeismar festgelegt worden. Ferner beginnen Überlegungen und Planungen für einen internationalen Kongress in Leipzig 2010 mit folgenden möglichen Schwerpunkten: Vergangene und gegenwärtige Kriegskindheiten: Lebensgeschichtliche und politisch-kulturelle Bedeutung von Kriegserfahrung und Generativität in Europa.

Konferenzübersicht:

Befragung zum Hamburger Feuersturm – beispielhaft (Ulrich Lamparter, Christa Holstein, Malte Thiessen, Birgit Möller, Silke Wiegand-Grefe)

Vaterlose Töchter – ein neues Projekt (Insa Fooken, Barbara Stambolis)

Posttraumatische Belastungsstörungen bei SeniorInnen in Deutschland in Folge von WK-II-Ereignissen (Prof. Dr. Elmar Brähler, Dr. Heide Gleasmer)

Transgenerationelle und transdisziplinäre Aspekte des Hamburger Projekts ‚Feuersturm’ (Ulrich Lamparter, Christa Holstein, Malte Thiessen, Birgit Möller, Silke Wiegand-Grefe)

Aus der Biografiearbeit (Imbke Behnken, Jana Mikota)

Kriegskindheit und 68er Bewegung: Ambivalenz in der Erinnerung und Geschichte einer Generation (Ulla Roberts)

Der Wiederaufbau deutscher Städte nach dem 2. Weltkrieg, Neuanfang, gebaute Deckphänomene und die (Un)möglichkeit zu trauern (Bertram von der Stein)

Die 50er Jahre in doppelter generationeller Perspektive (Sabine Berthold)

Ausgewählte Biografien zu den militärischen Aufbaugenerationen der Bundeswehr 1955-1970: die Kriegskindergeneration des Zweiten Weltkrieges als erste ungediente Bundeswehrgeneration (Rudolf J. Schlaffer)

Söhnelnde Männer und kränkelnde Frauen (Insa Fooken)

Männer – Jahrgang 43: Konturen eines Projekts (Jürgen Reulecke, Barbara Stambolis)

Jahrgang 43 deutscher Historiker: ‚Erfolgs’geschichten mit vielen Fragezeichen (Barbara Stambolis, Jürgen Reulecke, Insa Fooken, Hartmut Radebold)

Kriegskinder - Traumatisierung und Gesundheit. Weitere Ergebnisse aus der Mannheimer Kohortenstudie (MKS) (Klaus Lieberz, Matthias Franz)

Vorstellung eines Videointerviews aus dem Zeitzeugenprojekt des Fördervereins Kriegskinder für den Frieden (Helga Spranger)

Ein Kriegskindheits-Interview – Kategoriale Auswertung an einem Fallbeispiel (Michael Ermann, Elisabeth Heidtmann, Harald Kamm, Christa Müller)

Perspektiven

Anmerkungen:
1 Hartmut Radebold / Werner Bohleber / Jürgen Zinnecker (Hrsg.), Transgenerationale Weitergabe kriegsbelasteter Kindheiten, Essen 2007.
2 Hermann Schulz / Hartmut Radebold / Jürgen Reulecke, Söhne ohne Väter. Erfahrungen der Kriegsgeneration, Berlin 2004.
3 Tagungsbericht Jahrgang 1943 – zu den Konturen einer Historikerkohorte. 03.09.2008-05.09.2008, Evangelische Akademie Hofgeismar. In: H-Soz-u-Kult, 25.09.2008, <http://hsozkult.geschichte.hu-berlin.de/tagungsberichte/id=2273>.
4 <http://www.weltkrieg2kindheiten.de/> (17.11.2008).